HomeArchiv Rechtsprechung → Ermittlungspflicht des BAA in Bezug auf Frauen aus Afghanistan

Asylgerichtshof - 21.11.2011 - C2 419963-1/2011
Thema / LandAsylverfahren, soziale Gruppe, Afghanistan
BeschreibungBei Augenscheinlichkeit von Umständen, die die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten nahelegen, sind diese von Amts wegen zu erforschen, selbst wenn diesbezüglich kein initiatives Vorbringen seitens der Partei erstattet wird; soziale Gruppe der afghanischen Frauen, westliche Orientierung; Aufhebung und Zurückverweisung an das BAA gem. § 66 Abs. 2 AVG wegen unterlassener Ermittlungstätigkeit

[...]

Spruch

[...]

In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 66 Abs. 2 AVG zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen.

[...]

Entscheidungsgründe

[…] Die Beschwerdeführerin gab in der Erstbefragung an, dass sie keine eigenen Fluchtgründe habe und einen Antrag im Familienverfahren in Bezug auf ihren Gatten XXXX, stellen wolle.

[...] Am 6.6.2011 wurde die Beschwerdeführerin einer Einvernahme durch ein Organ des Bundesasylamtes unterzogen. […] In dieser Einvernahme gab die Beschwerdeführerin an, dass sie nach Österreich gekommen sei, um mit ihren Kindern bei ihrem Mann zu sein, mit dem sie seit acht Jahren verheiratet sei. […] Eine Thematisierung allfälliger Probleme als Frau, wie etwa einer Einschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit der Beschwerdeführerin, erfolgte nicht.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes […] wurde der Antrag der Beschwerdeführerin in Bezug auf die Zuerkennung des Status "des" (richtig: der) Asylberechtigten abgewiesen; unter einem wurde der Beschwerdeführerin der Status "des" (richtig: der) subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

[…] Mit am 21.6.2011 bei der Behörde eingebrachtem Schriftsatz wurde gegen Spruchpunkt I des gegenständlichen Bescheides Beschwerde erhoben.

[…] Zur Behandlung von Anträgen afghanischer Frauen ist allgemein auszuführen: Schon das Bundesasylamt hat festgestellt, dass es sich bei der Beschwerdeführerin um eine verheiratete afghanische Frau handelt.

[…] Sind daher Umstände augenscheinlich, die die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten nahelegen, sind diese auch von Amts wegen zu erforschen, selbst wenn diesbezüglich kein initiatives Vorbringen seitens der Partei erstattet wird, da dieses insbesondere deshalb unterbleiben könnte, weil der jeweiligen Partei die Relevanz des unterbliebenen Vorbringens nicht bewusst sein könnte. Daher sind die relevanten Umstände durch erhellende Fragestellungen zu klären, so die jeweiligen Angaben - selbst auf Nachfrage hin - nach den vorliegenden Umständen nicht hinreichend für eine Entscheidung sind. Um den Antrag abweisen zu können, reicht es nicht hin, darauf hinzuweisen, dass die Beschwerdeführerin eigene Ausführungen zu einem augenscheinlich naheliegenden Umstand, der die Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten begründen könnte, unterlassen hat.

[…] Zwar sind […] die Verwaltungsbehörden - also auch das Bundesasylamt - nur im jeweils gegenständlichen Fall insoweit an die Entscheidung des Asylgerichthofes gebunden, als diese mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Asylgerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen haben, eine gefestigte Rechtsprechung hat jedoch das Indiz der Richtigkeit für sich […] Diesbezüglich ist festzustellen, dass nach der Judikatur des Asylgerichtshofs afghanischen Frauen jedenfalls dann eine asylrelevante Verfolgung droht, wenn diese entweder westlich orientiert sind oder ein reales Risiko einer Zwangsverheiratung besteht. […] Darüber hinaus hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 20.7.2010 (N. gegen Schweden) im Wesentlichen ausgeführt, dass für Frauen in Afghanistan eine besondere Gefahr bestehen würde, misshandelt zu werden, wenn sie sich nicht in die ihnen von der Gesellschaft, der Tradition und dem Rechtssystem zugewiesene Geschlechterrolle einfügen würden. […] Verstöße gegen soziale Verhaltensregeln, so der Gerichtshof in Bezug auf den von ihm entschiedenen Fall, würden sich nicht nur auf den Bereich der Familie oder Gemeinschaft sondern auch auf die sexuelle Orientierung, die Verfolgung einer beruflichen Karriere oder einfach auf Zweifel an der Form des Familienlebens beziehen. Schon ein langer Aufenthalt im Ausland - im Anlassfall des Gerichtshofs in der Länge von etwa sechs Jahren - könnte bewirken, dass die Afghanin nicht der ihr zugewiesenen Geschlechterrolle entsprechen würde; bedeutender im Fall der dortigen Beschwerdeführerin vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wäre aber der Umstand gewesen, dass die dortige Beschwerdeführerin ihre Scheidung - wenn auch nicht erfolgreich - betrieben hätte.

Insgesamt folgt daraus, dass vom Bundesasylamt bei jedem Verfahren über Anträge afghanischer Frauen und Mädchen, jedenfalls ab Erreichen eines körperlichen Entwicklungsstadiums, das diese aus Sicht der afghanischen Gesellschaft (nicht unbedingt der afghanischen Rechtsordnung) als "heiratsfähig" erscheinen lässt, von Amts zu klären ist, ob der jeweiligen Antragstellerin eine Zwangsverheiratung droht; diese droht vor allem unverheirateten Frauen, aber auch Frauen, die eine ehrenrührige oder von der Familie nicht gewünschte Ehe eingegangen sind oder verstoßen wurden, wenn den Frauen und Mädchen nicht hinreichender Schutz durch ihre Familie zukommt. Weiters ist in Bezug auf die besondere Situation afghanischer Frauen und Mädchen - unabhängig von ihrem Familienstand - von Amts wegen immer zu klären:

Wie war die Wohnsituation der Beschwerdeführerin in Afghanistan (v.a. hat sie bei ihren Eltern oder hat sie bei ihren Schwiegereltern gelebt) und wie wurde sie vom "Haushaltsvorstand" (das muss nicht der Ehemann sein) behandelt? Liegt bei der Antragstellerin ein hinreichend klar artikulierter Wunsch nach Beginn einer Ausbildung oder einer beruflichen Tätigkeit vor oder hat sie eine solche bereits begonnen? Ist die Ehe der Beschwerdeführerin intakt oder hat diese den Wunsch, sich zu trennen, bereits unmissverständlich artikuliert und etwa schon entsprechende, rechtliche Schritte gesetzt? Ist die Beschwerdeführerin westlich orientiert?

Bezogen auf den gegenständlichen Fall bedeutet das:

Zur drohenden Zwangsverheiratung und zur Situation der Beschwerdeführerin in Afghanistan:

Zwar ist die Beschwerdeführerin verheiratet, jedoch hat sie in der Beschwerde vorgebracht, dass ihr eine weitere (zwangsweise) Verheiratung in Afghanistan drohen würde. Da das Bundesasylamt diesbezüglich seiner Pflicht zur amtswegigen Erforschung der materiellen Wahrheit nicht nachgekommen ist, ist diese Behauptung nicht vom Neuerungsverbot des § 40 AsylG 2005 umfasst und daher die Beschwerdeführerin diesbezüglich zu befragen; wird eine weitere drohende Zwangsverheiratung glaubhaft gemacht, wird vor allem das Verhältnis der Beschwerdeführerin zum Haushaltsvorstand in Afghanistan (das wird nicht der in Österreich befindliche Ehemann sein) zu klären sein; insbesondere ist relevant, ob dieser sie vor der allenfalls glaubhaft gemachten Zwangsverheiratung schützen kann und will.

Auch wird zu klären sein, wie sie der Haushaltsvorstand in Afghanistan behandelt hat. Wenn es in Afghanistan regelmäßig (im Sinne von nicht nur ausnahmsweise) zu Handlungen gegen die Beschwerdeführerin gekommen ist, die in Österreich als strafbare Taten zu qualifizieren wären (etwa §§ 83 ff, 105 ff, 201 ff StGB), sind diese asylrelevant, wenn sich nicht aus besonderen Umständen ergibt, dass kein reales Risiko einer Wiederholung besteht […]

Zum hinreichend klar artikulierten Wunsch nach Beginn einer Ausbildung oder einer beruflichen Tätigkeit oder deren Aufnahme: […] Aus der Beschwerde ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin einen solchen Wunsch nach Beginn einer Ausbildung hat […] Diesfalls ist zu ermitteln, ob der diesbezügliche Wunsch von ihrer Familie akzeptiert wird und - so dies von der Familie akzeptiert wird - die Familie auf Grund der Gegebenheiten im Heimatgebiet in Afghanistan (hier wird sich etwa Kabul wohl von ländlichen Gebieten erheblich unterscheiden) und der Macht der Familie die Beschwerdeführerin mit hinreichender Sicherheit vor Angriffen von außen schützen kann.

Zur Familiensituation der Beschwerdeführerin:

Die Beschwerdeführerin ist weiters - unter Bedachtnahme auf die besondere Sensibilität des Themas - von Amts wegen unter Bedachtnahme auf das oben zitierte Erkenntnis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu ihrer Familiensituation zu befragen. Bei der Glaubhaftmachung einer solchen Verfolgungsgefahr werden vor allem schon gesetzte rechtliche Schritte (etwa ein Scheidungsantrag, eine nach einem gegen den Ehemann verhängten Rückkehrverbot erlangte einstweilige Verfügung) entscheidungsrelevant sein.

Zur westlichen Orientierung der Beschwerdeführerin:

Am schwierigsten zu beantworten ist die Frage, ob bei der Beschwerdeführerin eine so intensive westliche Orientierung vorliegt, dass deren Aufgabe für diese entweder unmöglich ist oder ihr einen solchen Leidensdruck auferlegen würde, dass ihr dies nicht zumutbar wäre. Zur "westlichen Gesinnung" hat der VwGH im Erkenntnis 2006/19/0182 vom 16.01.2008 erkannt: "Nach der Stellungnahme des UNHCR vom Juli 2003 sollten unter anderem afghanische Frauen, von denen angenommen werde, dass sie soziale Normen verletzen (oder die dies tatsächlich tun), bei einer Rückkehr nach Afghanistan als gefährdet angesehen werden. […] Diese Stellungnahme geht also nicht nur bei "Ambition zu öffentlichem Auftreten" von einer Gefährdung aus, sondern bereits dann, wenn lediglich angenommen werde, eine Frau verletze soziale Normen."

Aus Sicht des Asylgerichtshofes liegt eine solche Verletzung der sozialen Normen vor, wenn die Frau in Österreich alltägliche Erledigungen alleine und in eigener Verantwortung (und nicht etwa über Auftrag des Ehemannes) erledigt, sich (schon) gewohnheitsmäßig westlich kleidet oder eigenverantwortlich soziale Kontakte außerhalb der Familie zu anderen, nicht der afghanischen Community in Österreich angehörigen Menschen, insbesondere Männern pflegt; dies setzt regelmäßig die Möglichkeit einer sprachlichen Kommunikation voraus. Eine diesbezügliche Verfolgung droht insbesondere dann, wenn diese Kontakte von ihrem Ehemann nicht akzeptiert werden oder anderen Afghanen bekannt wurden.

Daher wird das Bundesasylamt die Beschwerdeführerin dazu zu befragen haben, inwieweit sich ihr Leben in Österreich vom Leben in Afghanistan unterscheidet und ob eine oder mehrere Verletzungen afghanischer sozialer Normen im obigen Sinn vorliegen.

Weiters ist festzustellen, inwieweit die für die Beschwerdeführerin neuen Rechte bereits zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, sodass deren Unterdrückung einer Verfolgung - die diesfalls jedenfalls asylrelevant wäre - gleichkäme. Auch ist bei der Frage des Vorliegens einer "westlichen Gesinnung" und deren Verinnerlichung auf die Verweildauer im westlichen Ausland und die Gewöhnung an den westlichen Lebensstil Bedacht zu nehmen.

[…] In einer sinngemäßen Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG, die sich aus § 23 AsylGHG ergibt, kann der Asylgerichtshof den angefochtenen Bescheid beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückverweisen, wenn der dem Asylgerichtshof vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.

[…] Dem Bundesasylamt war auf Grund der regelmäßigen Judikatur des Asylgerichthofes und der zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichthofes bekannt, dass die Situation der Frauen in Afghanistan unter den genannten Umständen asylrelevant sein kann; trotzdem wurden diesbezüglich keine hinreichenden Ermittlungen geführt.

 Es ist daher spruchgemäß vorzugehen.