HomeArchiv Rechtsprechung → EuGH Vorabentscheidung zu Art. 6 Abs. 2 Dublin-Verordnung.

EuGH - 06.06.2013 - C-648/11, MA u.a.
Thema / LandBleiberecht, EU-Recht, Großbritannien, Italien
BeschreibungHat ein unbegleiteter Minderjähriger, der keinen sich in einem EU-Mitgliedstaat rechtmäßig aufhaltenden Familienangehörigen hat, in mehreren EU-Mitgliedstaaten einen Asylantrag gestellt, so ist unter diesen derjenige zur Durchführung des Asylverfahrens zuständig, in dem sich der unbegleitete Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat..

In der Rechtssache C?648/11

          […]

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

[…]

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist [...].

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen MA, BT und DA, drei minderjährigen Drittstaatsangehörigen, und dem Secretary of State for the Home Department (im Folgenden: Secretary of State) wegen dessen Entscheidung, ihre im Vereinigten Königreich eingereichten Asylanträge nicht zu prüfen und ihre Überstellung in den Mitgliedstaat anzuregen, in dem sie zuerst einen Asylantrag gestellt hatten.

 Rechtlicher Rahmen

Charta der Grundrechte der Europäischen Union

          3          Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden:   Charta) [...] bestimmt in seinem Abs. 2:

            „Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.“

 Verordnung Nr. 343/2003

[...]

5          Wie aus dem 15. Erwägungsgrund der genannten Verordnung in Verbindung mit Art.6            Abs. 1 EUV hervorgeht, steht die Verordnung im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta anerkannt wurden. Die Verordnung zielt insbesondere darauf ab, auf der Grundlage der Art. 1 und 18 der Charta die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde und des Rechts der Asylwerber auf   Asyl zu gewährleisten.

11      Art. 6 der Verordnung Nr. 343/2003 bestimmt:

„Handelt es sich bei dem Asylbewerber um einen unbegleiteten Minderjährigen, so ist der Mitgliedstaat, in dem sich ein Angehöriger seiner Familie rechtmäßig aufhält, für die Prüfung seines Antrags zuständig, sofern dies im Interesse des Minderjährigen liegt.

Ist kein Familienangehöriger anwesend, so ist der Mitgliedstaat, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat, zuständig.“

12      Art. 13 der Verordnung Nr. 343/2003 lautet:

„Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung nicht bestimmen, welchem Mitgliedstaat die Prüfung des Asylantrags obliegt, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.“

[…]

          Ausgangsrechtsstreit

 Der Fall MA

14      MA, eine eritreische Staatsangehörige, wurde am 24. Mai 1993 geboren und reiste am 25. Juli 2008 in das Vereinigte Königreich ein, wo sie bei ihrer Ankunft einen Asylantrag stellte.

15      Nachdem die britischen Behörden festgestellt hatten, dass MA bereits einen Asylantrag in Italien eingereicht hatte, ersuchten sie die italienischen Behörden gemäß den einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 343/2003, MA wieder aufzunehmen, wozu sich die italienischen Behörden [...] bereit erklärten.

16      Die Überstellung nach Italien [...] wurde nicht vollzogen. MA erhob vor dem High Court of Justice [...], Klage, um die Rechtmäßigkeit der angeordneten Überstellung zu bestreiten.

[…]

 Der Fall BT

19      Auch die am 20. Januar 1993 geborene BT ist eine eritreische Staatsangehörige. Sie reiste am 12. August 2009 in das Vereinigte Königreich ein, wo sie am Tag nach ihrer Ankunft einen Asylantrag stellte.

20      Nachdem die britischen Behörden festgestellt hatten, dass BT bereits einen Asylantrag in Italien eingereicht hatte, ersuchten sie die italienischen Behörden, BT wieder aufzunehmen, wozu sich die italienischen Behörden [...] bereit erklärten.

21      Am 4. Dezember 2009 wurde BT nach Italien überstellt.

22      BT erhob vor dem High Court of Justice [...] Klage, um die Rechtmäßigkeit ihrer Überstellung nach Italien zu bestreiten. [...]

         [...]

 Der Fall DA

24      DA, ein irakischer Staatsangehöriger, reiste am 20. November 2009 in das Vereinigte Königreich ein, wo er am 8. Dezember 2009 um Asyl bat. Da DA eingeräumt hatte, in den Niederlanden bereits einen Asylantrag gestellt zu haben, wurden die niederländischen Behörden ersucht, ihn wieder aufzunehmen, wozu sie sich [...] bereit erklärten.

25      Am 14. Juli 2010 ordnete der Secretary of State die Überstellung von DA in die Niederlande an. Auf eine am 26. Juli 2010 von DA beim High Court of Justice [...], erhobene Klage hin wurde jedoch entschieden, die Überstellung nicht zu vollziehen. [...]

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

[...]

27      Mit Urteil vom 21. Dezember 2010 hat der High Court of Justice [...], die Klagen der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens abgewiesen und entschieden, dass nach Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 ein unbegleiteter Minderjähriger, der Asyl beantragt und keinen Familienangehörigen habe, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalte, in den Mitgliedstaat zurückgeschickt werden könne, in dem er zum ersten Mal einen Asylantrag gestellt habe.

28     MA, BT und DA haben gegen dieses Urteil beim Court of Appeal [...] ein Rechtsmittel eingelegt.

29     In seiner Vorlageentscheidung weist dieses Gericht darauf hin, dass keiner der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens Familienangehörige im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 habe, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines der Mitgliedstaaten aufhielten.

[…]

33      Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal [...] beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Wenn ein Asylbewerber, bei dem es sich um einen unbegleiteten Minderjährigen ohne einen sich in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig aufhaltenden Familienangehörigen handelt, in mehr als einem Mitgliedstaat Asyl beantragt hat, welcher Mitgliedstaat ist dann nach Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 für die Entscheidung über den Asylantrag zuständig?

 Zur Vorlagefrage

[…]

42      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 dahin auszulegen ist, dass er in dem Fall, dass ein unbegleiteter Minderjähriger, der keinen sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats rechtmäßig aufhaltenden Familienangehörigen hat, in mehr als einem Mitgliedstaat Asyl beantragt hat, denjenigen Mitgliedstaat als „zuständigen Mitgliedstaat“ bestimmt, in dem dieser Minderjährige seinen ersten Antrag gestellt hat, oder aber denjenigen, in dem sich der Minderjährige aufhält, nachdem er dort seinen letzten dahin gehenden Antrag gestellt hat.

[…]

           47        Nach Art. 6 Abs. 1 ist der für die Prüfung eines Antrags eines unbegleiteten          Minderjährigen zuständige Mitgliedstaat derjenige, in dem sich ein Angehöriger seiner       Familie rechtmäßig aufhält, sofern dies im Interesse des Minderjährigen liegt.

48      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass kein Familienangehöriger der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats rechtmäßig aufhält, und folglich ist der zuständige Mitgliedstaat auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zu bestimmen, wonach die Zuständigkeit bei dem Mitgliedstaat liegt, „in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat“.

49      Für sich genommen lässt sich anhand dieses Wortlauts nicht feststellen, ob der fragliche Asylantrag der erste Asylantrag ist, den der betreffende Minderjährige in einem Mitgliedstaat gestellt hat, oder derjenige, den er zuletzt in einem anderen Mitgliedstaat gestellt hat.

50     Nach ständiger Rechtsprechung sind jedoch bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sonder auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden [...].

51      Zum Zusammenhang von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 ist zum einen festzustellen, dass der in Art. 5 Abs. 2 der Verordnung gebrauchte Ausdruck „seinen Antrag zum ersten Mal … stellt“ in Art. 6 Abs. 2 der Verordnung nicht wiederholt worden ist. Zum anderen bezieht sich die letztgenannte Vorschrift auf den Mitgliedstaat, „in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat“, während Art. 13 der Verordnung ausdrücklich darauf hinweist, dass „der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig [ist]“.

52      Wenn der Unionsgesetzgeber aber beabsichtigt hätte, in Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 „dem ersten Mitgliedstaat“ die Zuständigkeit zuzuweisen, wäre dies mit genau demselben Wortlaut wie in Art. 13 dieser Verordnung ausgedrückt worden.

53     Infolgedessen kann der Ausdruck „der Mitgliedstaat, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat“ nicht als „der erste Mitgliedstaat, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat“ verstanden werden.

54      Außerdem sind bei der Auslegung von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 auch sein Ziel, unbegleiteten Minderjährigen eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen, und das Hauptziel dieser Verordnung zu berücksichtigen, das – wie in ihren Erwägungsgründen 3 und 4 ausgeführt wird – darin besteht, einen effektiven Zugang zur Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft des Antragstellers zu gewährleisten.

55      Da unbegleitete Minderjährige aber eine Kategorie besonders gefährdeter Personen bilden, ist es wichtig, dass sich das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nicht länger als unbedingt nötig hinzieht, was bedeutet, dass unbegleitete Minderjährige grundsätzlich nicht in einen anderen Mitgliedstaat zu überstellen sind.

56      Die vorstehenden Erwägungen werden durch die Erfordernisse bestätigt, die sich aus dem 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 343/2003 ergeben, wonach diese Verordnung im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen steht, die insbesondere mit der Charta anerkannt wurden.

57      Zu diesen Grundrechten gehört nämlich insbesondere das in Art. 24 Abs. 2 der Charta verankerte Grundrecht, wonach bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss.

59      Daher hat, obwohl das Interesse des Minderjährigen nur in Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 ausdrücklich erwähnt wird, Art. 24 Abs. 2 der Charta in Verbindung mit ihrem Art. 51 Abs. 1 zur Folge, dass bei jeder Entscheidung, die die Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 erlassen, das Wohl des Kindes ebenfalls eine vorrangige Erwägung sein muss.

60      Diese Berücksichtigung des Wohles des Kindes erfordert grundsätzlich, dass unter Umständen wie denen, die die Lage der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens kennzeichnen, Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 so auszulegen ist, dass er denjenigen Mitgliedstaat als zuständigen Staat bestimmt, in dem sich der Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat.

[…]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 6 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass er unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen ein unbegleiteter Minderjähriger, der keinen sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats rechtmäßig aufhaltenden Familienangehörigen hat, in mehr als einem Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat, denjenigen Mitgliedstaat als „zuständigen Mitgliedstaat“ bestimmt, in dem sich dieser Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat.Formularende