HomeErwirkte Rechtsprechung → Rundschreiben der italienischen Behörden ist keine hinreichende erforderliche individuelle Zusicherung; erhöhte Verletzlichkeit aufgrund psychischen Gesundheitszustandes erfordert noch strengeren Maßstab an die Zusicherung

VfGH - 30.06.2016 - E 449-450/2016
Thema / LandDrittstaatsicherheit/Dublin
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"2.1.       Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte mit Urteil vom 4. November 2014 im Fall Tarakhel, Appl. 29.217/12, eine Verletzung des Art 3 EMRK wegen der einer achtköpfigen afghanischen Familie – einem Ehepaar und ihren sechs minderjährigen Kindern – im Rahmen der Dublin III-VO drohenden Überstellung von der Schweiz nach Italien fest (...). Hiebei führte er u.a. aus, dass zwar die Situation in Italien im vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu beurteilenden Zeitpunkt in keiner Weise mit jener in Griechenland, auf die sich das Urteil im Fall M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (21.1.2011, Appl. 30.696/09) beziehen würde, verglichen werden könne, jedoch bestünden auf Grund des auffallenden Missverhältnisses zwischen gestellten Asylanträgen und Betreuungsplätzen in Italien ernsthafte Zweifel über die Kapazitäten des Systems (Rz 110, 114 und 115). Laut Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte hätten die schweizerischen Behörden daher von den italienischen Behörden Zusicherungen dahingehend einholen müssen, dass die Beschwerdeführer, bei denen es sich zum Teil um Minderjährige und somit um besonders schutzbedürftige Personen handle, bei ihrer Ankunft in Italien in Einrichtungen und unter Bedingungen untergebracht würden, welche dem Alter der Kinder entsprächen, und dass die Familienmitglieder nicht getrennt würden (Rz 119 und 120). Die italienischen Behörden hätten diesbezüglich keine Details über die Verhältnisse vorgelegt, unter denen sie sich um die Beschwerdeführer kümmern würden (Rz 121).

2.2.       Eingangs ist festzuhalten, dass das Bundesverwaltungsgericht in seinem Erkenntnis im Vergleich zu den dem Tarakhel-Urteil zugrunde liegenden Länderberichten bezüglich Aufnahmebedingungen und Versorgungskapazitäten in Italien scheinbar aktuell nicht von einer wesentlich geänderten Situation ausgeht, die möglicherweise die im Urteil aufgestellten Verpflichtungen nicht mehr notwendig machen würde, sondern erachtet es vielmehr die Einholung einer individuellen Zusicherung von Italien nach wie vor selbst für notwendig (Pkt. I.10.).

Vor diesem Hintergrund ist dem Bundesverwaltungsgericht nicht zu folgen, wenn es das Schreiben des italienischen Innenministeriums vom 8. Juni 2015 (s. oben unter Pkt. I.5.) als hinreichende Zusicherung einer altersentsprechenden Unterbringung und nicht erfolgenden Trennung der Familienmitglieder iSd Tarakhel-Urteils erachtet. Diesem allgemein gehaltenen, als Rundschreiben ("CIRCULAR LETTER") bezeichneten und an alle Dublin-Einheiten ("TO ALL DUBLIN UNITS") gerichteten Schreiben ist nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes keinerlei individuelle Zusicherung der Unterbringung und des Zusammenbleibens der Beschwerdeführer zu entnehmen, sondern enthält dieses v.a. generelle Informationen zur Unterbringung von Familien mit Minderjährigen bei Überstellungen nach Italien im Rahmen der Dublin III-VO.

Zum weiteren – sich im Verwaltungsakt befindlichen und nur an die österreichischen Behörden gerichteten – Schreiben des italienischen Innenministeriums, welches einerseits die Garantie der gemeinsamen Unterbringung von Familien mit Minderjährigen in Italien nach einer Überstellung im Rahmen der Dublin III-VO enthält und andererseits um die Überstellungsdaten zur weiteren Koordinierung sowie Bekanntgabe der konkreten Unterkunft für Familien 15 Tage vor der beabsichtigten Überstellung ersucht, ist Folgendes festzuhalten: Dieses Schreiben enthält weder die Angabe eines Datums noch persönliche Angaben zu den Beschwerdeführern, wie zB Namen oder zumindest Aktenzahlen, auf die Bezug genommen wird. Da das Bundesverwaltungsgericht sich in seinem Erkenntnis selbst nicht auf dieses Schreiben stützt sowie dieses zur Begründung der von ihm angenommenen Einhaltung der Zusicherung iSd Tarakhel-Urteils nicht heranzieht, kann es nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes dahingestellt bleiben, ob dieses als konkrete Antwort auf die vom BFA mit 3. Februar 2015 und 2. März 2015 (Pkt. I.2.) getätigten Anfragen gedeutet werden könnte.

Zudem ist auszuführen, dass – wie auch das Bundesverwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung feststellt – der Zweitbeschwerdeführer u.a. an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und diesbezüglich in psychotherapeutischer Behandlung steht, wobei laut vorliegenden Befunden die Überstellung nach Italien die Gefahr einer Retraumatisierung und Destabilisierung seines Gesundheitszustandes mit sich bringen würde (...). Dieser Aspekt wäre vom Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf die im Tarakhel-Urteil geforderte individuelle Zusicherung durch Italien zu beachten gewesen, zumal sich die – nach dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bereits auf Grund der Minderjährigkeit des Zweitbeschwerdeführers bestehende – besondere Verletzlichkeit seiner Person nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes wegen seines gesundheitlichen Zustandes noch erhöht und im konkreten Einzelfall einen noch strengeren Maßstab an die o.a. Zusicherung durch die italienischen Behörden erfordert.

3.           Das Bundesverwaltungsgericht hat daher hinsichtlich des Zweitbeschwerdeführers ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren unterlassen bzw. den konkreten Sachverhalt außer Acht gelassen und damit Willkür iSd ständigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes geübt. Dieser Mangel schlägt gemäß § 34 Abs 4 AsylG 2005 auf die Entscheidung betreffend die übrigen Beschwerdeführer durch (s. VfSlg 19.855/2014), weshalb diese hinsichtlich aller Beschwerdeführer aufzuheben ist."