HomeArchiv Rechtsprechung → Unanwendbarkeit der RückführungsRL auf AsylwerberInnen, Auslegung der AsylverfahrensRL und AufnahmeRL

EuGH - 30.05.2013 - C-534/11, Arslan
Thema / LandEU-Recht, Schubhaft, Tschechische Republik
BeschreibungI. Die RL 2008/115/EG (RückführungsRL) ist nicht auf Drittstaatsangehörige anwendbar, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, solange das Verfahren darüber noch anhängig ist. Folglich ist auf ihrer Basis auch keine Inhaftierung möglich, sobald – auch während der Haft zum Zweck der Rückführung – ein Asylantrag gestellt wird.
II. Die RL 2005/85/EG (VerfahrensRL) und 2003/9/EG (AufnahmeRL) stehen einer Inhaftierung nach nationalen Vorschriften nicht entgegen, wenn der Asylantrag einzig und allein zu dem Zweck gestellt wurde, den Vollzug der Rückführungsentscheidung zu verzögern und es objektiv erforderlich ist, die Haft aufrechtzuerhalten, damit sich der Betreffende seiner Rückführung nicht entzieht.

In der Rechtssache C?534/11

 […]

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

[…]

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98) in Verbindung mit dem neunten Erwägungsgrund dieser Richtlinie.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Arslan, einem in der Tschechischen Republik festgenommenen und im Hinblick auf seine Abschiebung im Verwaltungsweg inhaftierten türkischen Staatsangehörigen, der aus dieser Haft heraus gemäß den nationalen Asylvorschriften um internationalen Schutz ersucht hatte, und der [...] (Polizei der Tschechischen Republik, Bezirksdirektion Ustí [Aussig], Abteilung Ausländerpolizei) über die Entscheidung der Letzteren vom 25. März 2011, die ursprüngliche Haft von 60 Tagen um einen zusätzlichen Zeitraum von 120 Tagen zu verlängern.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2008/115

3        Die Erwägungsgründe 2, 4, 8, 9 und 16 der Richtlinie 2008/115 [Anm. NWAA: Rückführungsrichtlinie] lauten:

[…]

 (9)      Gemäß der Richtlinie [2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13)] sollten Drittstaatsangehörige, die in einem Mitgliedstaat Asyl beantragt haben, so lange nicht als illegal im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhältige Person gelten, bis eine abschlägige Entscheidung über den Antrag oder eine Entscheidung, mit der [ihr] Aufenthaltsrecht als Asylbewerber beendet wird, bestandskräftig geworden ist.

[…]

5        Art. 2 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie findet Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige.“

6        Art. 3 Nr. 2 dieser Richtlinie definiert den Begriff des „illegalen Aufenthalts“ als „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die … Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats“.

7       Nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 „erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.“

8       In Art. 15 der Richtlinie heißt es:

         „(1) Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

         a) Fluchtgefahr besteht oder

         b) die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

         [...]

         (4) Stellt sich heraus, dass aus rechtlichen oder anderweitigen Erwägungen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht oder dass die Bedingungen gemäß Absatz 1 nicht mehr gegeben sind, so ist die Haft nicht länger gerechtfertigt und die betreffende Person unverzüglich freizulassen.

         [...]

 Richtlinie 2005/85 [Anm. NWAA: Verfahrensrichtlinie]

[…]

11      Art. 7 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)      Antragsteller dürfen ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens so lange im Mitgliedstaat verbleiben, bis die Asylbehörde nach den in Kapitel III genannten erstinstanzlichen Verfahren über den Asylantrag entschieden hat. Aus dieser Bleibeberechtigung ergibt sich kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel.

(2)      Die Mitgliedstaaten können nur eine Ausnahme machen, wenn gemäß den Artikeln 32 und 34 ein Folgeantrag nicht weiter geprüft wird oder wenn sie eine Person aufgrund von Verpflichtungen aus einem europäischen Haftbefehl … oder aus anderen Gründen entweder an einen anderen Mitgliedstaat oder aber an einen Drittstaat oder an internationale Strafgerichte oder Tribunale überstellen bzw. ausliefern.“

12      Art. 18 derselben Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam, weil sie ein Asylbewerber ist.

(2)      Wird ein Asylbewerber in Gewahrsam genommen, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass eine rasche gerichtliche Überprüfung des Gewahrsams möglich ist.“

[…]

 Richtlinie 2003/9 [Anm. NWAA: Aufnahmerichtlinie]

15      [...] Art. 7 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Asylbewerber dürfen sich im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats oder in einem ihnen von diesem Mitgliedstaat zugewiesenen Gebiet frei bewegen. Das zugewiesene Gebiet darf die unveräußerliche Privatsphäre nicht beeinträchtigen und muss hinreichenden Spielraum dafür bieten, dass Gewähr für eine Inanspruchnahme der Vorteile aus dieser Richtlinie gegeben ist.

(2)      Die Mitgliedstaaten können – aus Gründen des öffentlichen Interesses, der öffentlichen Ordnung oder wenn es für eine reibungslose Bearbeitung und wirksame Überwachung des betreffenden Asylantrags erforderlich ist – einen Beschluss über den Wohnsitz des Asylbewerbers fassen.

(3)      In Fällen, in denen dies zum Beispiel aus rechtlichen Gründen oder aus Gründen der öffentlichen Ordnung erforderlich ist, können die Mitgliedstaaten dem Asylbewerber nach einzelstaatlichem Recht einen bestimmten Ort zuweisen.

…“

Tschechisches Recht

[…]

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

22      Am 1. Februar 2011 wurde Herr Arslan von einer Streife der tschechischen Polizei festgenommen und inhaftiert. Am 2. Februar 2011 erging gegen ihn eine Entscheidung über seine Abschiebung.

23      Mit einer Entscheidung vom 8. Februar 2011 wurde die Haftdauer von Herrn Arslan auf 60 Tage festgesetzt und dies insbesondere damit begründet, dass angesichts seines Verhaltens in der Vergangenheit davon auszugehen sei, dass er den Vollzug der Entscheidung über die Abschiebung vereiteln werde. […]

24      Am Tag des Erlasses dieser letztgenannten Entscheidung gab Herr Arslan bei den tschechischen Behörden eine Erklärung zum Zweck der Erlangung internationalen Schutzes ab.

25      Die Haft von Herrn Arslan wurde mit Entscheidung vom 25. März 2011 mit der Begründung um 120 Tage verlängert, dass diese Verlängerung erforderlich sei, um mit den Vorbereitungen für den Vollzug der Entscheidung über die Abschiebung des Betroffenen fortfahren zu können, da das Verfahren über Herrn Arslans Ersuchen um internationalen Schutz noch laufe und die Entscheidung über die Abschiebung nicht vollzogen werden könne, solange dieses Ersuchen geprüft werde. Der Entscheidung vom 25. März 2011 zufolge war mit dem Ersuchen um internationalen Schutz der Zweck verfolgt worden, den Vollzug der Entscheidung über die Abschiebung zu behindern. […]

[…]

30      Das vorlegende Gericht hegt Zweifel, ob der um internationalen Schutz Ersuchende unter Anwendung der Richtlinie 2008/115 rechtmäßig inhaftiert bleiben könne. Insbesondere fragt es sich, ob diese Richtlinie nicht dahin auszulegen sei, dass die Inhaftierung eines Ausländers zu Rückführungszwecken beendet werden müsse, wenn Letzterer um internationalen Schutz ersuche. […].

31      Unter diesen Umständen hat der [...] (Oberster Verwaltungsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit dem neunten Erwägungsgrund dieser Richtlinie so auszulegen, dass diese Richtlinie keine Anwendung auf einen Drittstaatsangehörigen findet, der um internationalen Schutz im Sinne der Richtlinie 2005/85 ersucht hat?

2.      Wenn die erste Frage bejaht wird: Muss die Inhaftierung des Ausländers für die Zwecke der Rückführung beendet werden, wenn er im Sinne der Richtlinie 2005/85 um internationalen Schutz ersucht und im konkreten Fall keine anderen Gründe für die Fortsetzung der Inhaftierung bestehen?

[…]

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Vorlagefrage

40      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit ihrem neunten Erwägungsgrund dahin auszulegen ist, dass diese Richtlinie keine Anwendung auf einen Drittstaatsangehörigen findet, der um internationalen Schutz im Sinne der Richtlinie 2005/85 ersucht hat.

[…]

45      Die Richtlinie 2005/85, deren Zweck ihrem Art. 1 zufolge darin besteht, Mindestnormen für Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft festzulegen, gibt in ihrem Art. 7 Abs. 1 Asylbewerbern das Recht, ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens in demjenigen Mitgliedstaat zu verbleiben, in dem ihr Antrag gestellt wurde oder geprüft wird, und zwar so lange, bis die für diese Prüfung zuständige Behörde in erster Instanz über diesen Antrag entschieden hat.

46     Art. 7 Abs. 2 dieser Richtlinie gestattet nur unter eingeschränkten Voraussetzungen eine Ausnahme von der in Art. 7 Abs. 1 enthaltenen Regel, nämlich wenn es sich nicht um einen Erstasylantrag, sondern um einen nicht weiter geprüften Folgeantrag handelt oder wenn der Antragsteller entweder an einen anderen Mitgliedstaat oder aber an einen Drittstaat oder an internationale Strafgerichte oder Tribunale überstellt bzw. ausgeliefert wird.

 […]

48      Obwohl dieser Art. 7 Abs. 1 also ausdrücklich keinen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel verleiht, sondern es jedem Mitgliedstaat anheimstellt, ob er einen solchen Titel ausstellt, ergibt sich klar aus der grammatikalischen, systematischen und teleologischen Auslegung der Richtlinien 2005/85 und 2008/115, dass ein Asylbewerber unabhängig von der Ausstellung eines solchen Titels das Recht hat, sich im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zumindest bis zur Ablehnung seines Antrags in erster Instanz aufzuhalten, und somit nicht als „illegal aufhältig“ im Sinne der Richtlinie 2008/115 angesehen werden kann, die bezweckt, ihn aus diesem Hoheitsgebiet abzuschieben.

49      Nach den vorstehenden Erwägungen ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit deren neuntem Erwägungsgrund dahin auszulegen ist, dass diese Richtlinie auf einen Drittstaatsangehörigen, der im Sinne der Richtlinie 2005/85 um internationalen Schutz ersucht hat, im Zeitraum zwischen der Antragstellung bis zum Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung über diesen Antrag oder gegebenenfalls bis zur Entscheidung über einen allfälligen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung keine Anwendung findet.

 Zur zweiten Vorlagefrage

50      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob es ungeachtet der Unanwendbarkeit der Richtlinie 2008/115 auf Drittstaatsangehörige, die im Sinne der Richtlinie 2005/85 um internationalen Schutz ersucht haben, möglich ist, die Inhaftierung des Drittstaatsangehörigen, der einen solchen Antrag gestellt hat, nachdem er gemäß Art. 15 der Richtlinie 2008/115 zum Zwecke seiner Rückführung oder Abschiebung in Haft genommen worden war, aufrechtzuerhalten.

[…]

52      Wie der Gerichtshof bereits ausgeführt hat, unterliegen die Inhaftierung für die Zwecke der Abschiebung gemäß der Richtlinie 2008/115 und die Ingewahrsamnahme eines Asylbewerbers insbesondere gemäß den Richtlinien 2003/9 und 2005/85 sowie den anwendbaren nationalen Vorschriften unterschiedlichen rechtlichen Regelungen (vgl. Urteil vom 30. November 2009, Kadzoev, C?357/09 PPU, Slg. 2009, I?11189, Randnr. 45).

53     Zu der auf Asylwerber anwendbaren Regelung ist daran zu erinnern, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/9 den Grundsatz aufstellt, wonach sich Asylbewerber im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats [...] frei bewegen dürfen. Art. 7 Abs. 3 stellt jedoch klar, dass die Mitgliedstaaten dem Asylbewerber [...] nach einzelstaatlichem Recht einen bestimmten Ort zuweisen können.

54     Nach Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85 nehmen die Mitgliedstaaten eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam, weil sei ein Asylbewerber ist, und nach Art. 18 Abs. 2 stellen die Mitgliedstaaten, wenn ein Asylbewerber in Gewahrsam genommen wird, sicher, dass eine rasche gerichtliche Überprüfung des Gewahrsams möglich ist. [...]

55     Doch weder die Richtlinie 2003/9 noch die Richtlinie 2005/85 führen nach gegenwärtigem Stand zu einer Harmonisierung der Grüne, aus denen die Ingewahrsamnahme eines Asylbewerbers angeordnet werden kann. [...]

56      Daher ist es derzeit Sache der Mitgliedstaaten, unter vollständiger Einhaltung ihrer Verpflichtungen sowohl aus dem Völkerrecht als auch aus dem Unionsrecht die Gründe festzulegen, aus denen ein Asylbewerber in Gewahrsam genommen oder der Gewahrsam aufrechterhalten werden kann.

57      In einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der der Drittstaatsangehörige zum einen auf der Grundlage von Art. 15 der Richtlinie 2008/115 mit der Begründung in Haft genommen wurde, dass sein Verhalten Anlass zur Befürchtung gebe, dass er ohne Inhaftnahme fliehen und seine Abschiebung vereiteln würde, und in der zum anderen der Asylantrag einzig und allein zu dem Zweck gestellt worden zu sein scheint, den Vollzug der gegen ihn erlassenen Rückführungsentscheidung zu verzögern, wenn nicht gar zu gefährden, ist festzustellen, dass solche Umstände tatsächlich geeignet sind, die Aufrechterhaltung der Haft dieses Drittstaatsangehörigen auch nach Stellung eines Asylantrags zu rechtfertigen.

58      Eine nationale Vorschrift, die es unter solchen Umständen gestattet, die Inhaftierung des Asylbewerbers aufrechtzuerhalten, ist nämlich mit Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85 vereinbar, da der Gewahrsam hier nicht die Folge der Stellung des Asylantrags ist, sondern der Umstände, die das individuelle Verhalten dieses Antragstellers vor und bei der Antragstellung kennzeichnen.

59      Da außerdem die Aufrechterhaltung der Haft unter diesen Umständen offensichtlich objektiv erforderlich ist, um zu verhindern, dass der Betreffende sich endgültig seiner Rückführung entzieht, ist diese Aufrechterhaltung auch gemäß Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2003/9 zulässig.

60      Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass zwar die Richtlinie 2008/115, solange das Verfahren zur Prüfung des Asylantrags läuft, nicht zur Anwendung kommt, dies aber keinesfalls bedeutet, dass dadurch das Rückführungsverfahren endgültig beendet wird, da dieses im Falle der Ablehnung des Asylantrags fortgesetzt werden kann. […]

[…]

62      Es ist jedoch klarzustellen, dass der alleinige Umstand, dass gegen einen Asylbewerber im Zeitpunkt seiner Antragstellung eine Rückführungsentscheidung erlassen wird und dass er auf der Grundlage von Art. 15 der Richtlinie 2008/115 in Haft genommen wird, nicht ohne fallspezifische Beurteilung sämtlicher relevanter Umstände die Vermutung zulässt, dass er diesen Antrag einzig und allein zu dem Zweck gestellt habe, den Vollzug der Rückführungsentscheidung zu verzögern oder zu gefährden, und dass es objektiv erforderlich und verhältnismäßig sei, die Haftmaßnahme aufrechtzuerhalten.

63      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2003/9 und die Richtlinie 2005/85 dem nicht entgegenstehen, dass die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen, der im Sinne der Richtlinie 2005/85 um internationalen Schutz ersucht hat, nachdem er gemäß Art. 15 der Richtlinie 2008/115 in Haft genommen worden war, auf der Grundlage einer nationalen Rechtsvorschrift aufrechterhalten wird, wenn sich nach einer fallspezifischen Beurteilung sämtlicher relevanter Umstände herausstellt, dass dieser Antrag einzig und allein zu dem Zweck gestellt wurde, den Vollzug der Rückführungsentscheidung zu verzögern oder zu gefährden, und es objektiv erforderlich ist, die Haftmaßnahme aufrechtzuerhalten, um zu verhindern, dass sich der Betreffende endgültig seiner Rückführung entzieht.

[...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist in Verbindung mit deren neuntem Erwägungsgrund dahin auszulegen, dass diese Richtlinie auf einen Drittstaatsangehörigen, der im Sinne der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft um internationalen Schutz ersucht hat, im Zeitraum zwischen der Antragstellung bis zum Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung über diesen Antrag oder gegebenenfalls bis zur Entscheidung über einen allfälligen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung keine Anwendung findet.

2.      Die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten und die Richtlinie 2005/85 stehen dem nicht entgegen, dass die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen, der im Sinne der Richtlinie 2005/85 um internationalen Schutz ersucht hat, nachdem er gemäß Art. 15 der Richtlinie 2008/115 in Haft genommen worden war, auf der Grundlage einer nationalen Rechtsvorschrift aufrechterhalten wird, wenn sich nach einer fallspezifischen Beurteilung sämtlicher relevanter Umstände herausstellt, dass dieser Antrag einzig und allein zu dem Zweck gestellt wurde, den Vollzug der Rückführungsentscheidung zu verzögern oder zu gefährden, und es objektiv erforderlich ist, die Haftmaßnahme aufrechtzuerhalten, um zu verhindern, dass sich der Betreffende endgültig seiner Rückführung entzieht.